12. Oktober 2017

Hort der Begegnung

Christoph Fahle ist einer der Mitbegründer vom betahaus Berlin und damit ein absoluter Pionier der deutschen Coworking-Szene. Als er und seine Mitgründer in spe sich Ende der Nullerjahre bei der Stadt Berlin um Startkapital für einen neuartigen Arbeitsraum bewarben, wurden sie nur müde belächelt. Mittlerweile gibt es in Berlin Dutzende Coworking-Spaces und nicht wenige davon – ob heimlich oder offenkundig – sind vom betahaus inspiriert. Herr Fahle und ich haben uns über das A und O, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Coworking unterhalten und sind dabei auch auf Gründe für und gegen Digitalisierungsoptimismus zu sprechen gekommen.

Viktor Hildebrandt: Herr Fahle, das betahaus ist einer von Berlins beliebtesten Coworking-Spaces, und das schon seit 2009. Warum kommen so viele Menschen zum Arbeiten ins betahaus?  

Christoph Fahle: Ich glaube, wir haben mit dem betahaus einen Ort geschaffen, wo Menschen ihre Ideen verwirklichen können, meistens indem sie ein Unternehmen gründen. Unsere Mitglieder kommen gerne ins betahaus, weil sie dort viele andere Leute treffen können, die ebenfalls an ihren Projekten arbeiten.

Zunächst einmal kommen die Menschen zu uns, um nicht allein zu sein. Eine unserer ganz zentralen Aufgaben als betahaus ist es dann, Beziehungen zwischen unseren Mitgliedern herzustellen, damit daraus ein belastbares Netzwerk und eine echte Gemeinschaft entsteht. Wir sind überzeugt, dass man heutzutage nichts oder zumindest nur sehr wenig bewegen kann, solange man auf sich allein gestellt ist. Man muss also wissen, wo man Gleichgesinnte findet und wo man sich unkompliziert Hilfe holen kann. Das betahaus ist so ein Ort und damit in gewissem Sinne ein Nadelöhr. Das trifft aber auch auf ganz viele andere Coworking-Spaces zu.

Wie erzeugt man denn ein Gemeinschaftsgefühl zwischen wildfremden Menschen, die zunächst nichts miteinander teilen außer den Arbeitsplatz?  

Die meisten unserer Mitglieder könnten überall auf der Welt arbeiten, solange es dort eine Internetverbindung und eine Steckdose gibt, denn sie sitzen die meiste Zeit ihres Arbeitstags vor dem Laptop. In dieser von Technologie dominierten und ziemlich ortsunabhängigen Welt sind wir aber paradoxerweise umso mehr auf Orte angewiesen, wo wir anderen Menschen tatsächlich begegnen können.

Wir versuchen das betahaus deshalb zu einem Ort der Begegnung zu machen, und zwar ganz einfach indem wir verschiedene Veranstaltungen organisieren, die alle darauf ausgerichtet sind, dass unsere Mitglieder sich kennenlernen, ihr Wissen und ihre Ideen teilen und von- und miteinander lernen. Natürlich gibt es bei uns auch Räume für konzentriertes Arbeiten, aber der Schwerpunkt im betahaus liegt ganz klar auf der Community.

Könnten Sie bitte ein paar typische Veranstaltungen beschreiben?  

Die meisten Veranstaltungen finden regelmäßig statt. Das betabreakfast ist beispielsweise eines unserer ältesten Formate. Dabei handelt es sich um ein allwöchentliches gemeinsames Frühstück, zu dem auch Leute, die einfach nur mal reinschnuppern wollen, herzlich eingeladen sind. Wir sitzen dann alle im Café an einem großen Tisch, frühstücken gemeinsam und einige der Mitglieder oder Gäste stellen sich und ihre aktuellen Projekte vor. Dann wäre da der Tupperware Tuesday, ein informelles Mittagsmeeting, zu dem alle ihr eigenes Essen mitbringen. Jeden Mittwoch gehen einige unserer Mitglieder gemeinsam joggen. Ab und an veranstalten wir auch eine Jam-Session oder eine kleine Party. Und wo immer es sich anbietet, nehmen wir auch externe Events wie zum Beispiel die Fête de la Musique als Anlass für eine Veranstaltung bei uns im betahaus. Bei all diesen Events liegt der Fokus jedenfalls auf dem informellen Austausch.

Es gibt aber natürlich auch zahlreiche Workshops und Seminare zu verschiedenen Themen von 3-D-Drucken über Design-Thinking bis hin zu Holzarbeiten oder Meditation. Manche dieser Veranstaltungen dauern einen Nachmittag, andere einige Tage, manche sogar zwei Wochen. Mittlerweile laufen auch unsere sogenannten Office Hours richtig gut. Die muss man sich tatsächlich wie Sprechstunden beim Arzt oder beim Professor vorstellen. Experten stehen regel- oder unregelmäßig den Mitgliedern der Community für alle möglichen Fragen zur Verfügung. Auch hier ist die Palette wieder sehr breit gefächert. Man kann zum Beispiel sein Geschäftsmodell kritisch prüfen lassen, das eigene Kundenmanagement verbessern oder lernen, wie man ein Patent anmeldet. Im Gegensatz zu den informellen Veranstaltungen, über die wir gerade gesprochen haben, liegt der Schwerpunkt hier auf dem organisierten Austausch von Wissen und Erfahrung. Beides ist auf seine Art total wichtig für die Gemeinschaft unserer Mitglieder.

Zeichnung von sitzenden Menschen an einem Tisch

Welche Rolle spielt das betahaus, also der Raum an sich, für die Community?  

Der Raum schafft die Grundlagen für Begegnungen. Jeder weiß, dass die Teeküche ein ganz zentraler Treffpunkt in jeder Bürogemeinschaft ist. Der Aufbau des Raumes muss Offenheit und Freundlichkeit ausstrahlen und die einzelnen Elemente müssen so flexibel sein, dass sie an unterschiedliche Bedarfe angepasst werden können. Der Raum trägt ganz entscheidend zur Stimmung der Menschen bei, die ihn nutzen. Und dass die technische Infrastruktur vom Drucker bis zum Router einwandfrei funktionieren muss, ist auch selbstverständlich. Wenn das nicht läuft, dann helfen auch die besten Events nicht weiter.

Aber letztlich ist das alles keine Raketenwissenschaft. Es gibt weder bei den Veranstaltungen noch bei den Räumen irgendwelche geheimen Zutaten oder Supertools. Und ob die Stühle jetzt grün oder rot sind und ob man sich zum Frühstück oder zum Mittagessen trifft, ganz ehrlich, das ist doch total egal.

Im betahaus wurde anfangs sehr viel improvisiert. Alles wurde immer wieder auf die Probe und in Frage gestellt. Nichts war endgültig. Nichts war fertig. Das war sehr charmant und passte gut zum Namen. Haben sich die Strukturen im betahaus mittlerweile verfestigt?  

Teilweise. Natürlich haben wir heute mehr Routine(n) als in der Anfangszeit. Andererseits befindet sich die Welt gerade in einem so schnellen, umfassenden und tief greifenden Veränderungsprozess, dass wir das Gefühl nicht loswerden, flexibel bleiben und uns weiterentwickeln zu müssen. Wir wollen einen Ort für neue Formen des Arbeitens schaffen. Dieser Ort kann ja noch gar nicht fertig sein, denn die Bedeutung von Arbeit wird gerade völlig neu definiert. Wir sind also immer noch unsere eigene Beta-Version.

Das eigentlich Bemerkenswerte in diesem Zusammenhang ist doch, dass sich die Menschen bei aller Flexibilität einen klaren Rahmen wünschen. Es gibt bei uns Öffnungszeiten und die Leute finden das super. Zu Hause gibt es keine Öffnungszeiten, da können sie bis nach Mitternacht am Schreibtisch hocken. Auch der Ort selbst – in unserem Fall das betahaus – schafft Grenzen. Er bietet seinen Nutzern einen Fixpunkt und ist Teil ihres täglichen Rahmens.

Seit einigen Jahren wächst die Zahl der Menschen, die in Coworking-Spaces arbeiten, rasant, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Eine Verdopplung von einem Jahr aufs nächste gab es schon mehrfach. Glauben Sie, dieser Trend wird sich weiter fortsetzen?  

Im Prinzip schon. Als wir 2009 das betahaus eröffnet haben, gab es in Berlin quasi keinen vergleichbaren Ort. Natürlich gab es noch andere Bürogemeinschaften, aber die liefen nicht offiziell unter dem Label „Coworking-Space”. Heute gibt es – ich übertreibe ein wenig – an jeder Ecke einen Coworking-Space. Doch zusammengenommen füllen wir trotzdem gerade mal zwei Prozent der Büroflächen in Berlin. Wenn man dann noch bedenkt, dass nur 1,5 Prozent aller Freiberufler überhaupt in Coworking-Spaces arbeiten und dass es immer mehr Freiberufler gibt, dann bekommt man ein ganz gutes Gefühl für das Potenzial dieser immer noch ziemlich jungen Typologie.

„Die Menschen haben weiterhin das Gefühl, dort zuhause zu sein, wo sie gerade leben. Aber sie bleiben deshalb nicht gleich für immer dort.“

Außerdem verändern sich auch in den größeren Unternehmen die Bürokonzepte. In Zukunft werden die Arbeitsplätze auch dort stärker auf Gemeinschaft und Zusammenarbeit – oder wie man auf Neudeutsch sagt: Community und Collaboration – ausgelegt sein.. Aber die werden natürlich nicht alle „Coworking-Space” heißen. Kurzum: Ja, ich glaube, der Markt für Coworking wird noch jahrelang stark wachsen, und vor allem wird er sich ausdifferenzieren.

Coworking-Spaces haben im Schnitt immer mehr Mitglieder. Warum ist das so?  

Die Zahl der Mitglieder steigt, weil die Betreiber der Coworking-Spaces mit mehr Mitgliedern mehr Umsatz machen und damit auch mehr Gewinn erzielen können. Früher waren viele Coworking-Spaces nicht an Profit interessiert. Das änderte sich aber nach und nach und heute ist daraus ein großes Geschäft geworden.

Profitieren davon auch die Nutzer dieser Räume?  

Nicht unbedingt. Steigende Mitgliederzahlen sind bis zu einer bestimmten Grenze zuträglich und danach kann es sich sogar negativ auswirken. Ich glaube (und auch dafür gibt es irgendwo eine Statistik), dass diese Grenze bei ungefähr 150 Mitgliedern liegt. Also 100 Nutzer sind zum Beispiel besser als 20, weil alle von dem größeren Netzwerk profitieren. Aber irgendwann verlieren die Mitglieder den Überblick und für die Betreiber wird es schwieriger, die Leute miteinander zu vernetzen und sich um alle zu kümmern. Im Prinzip muss man sich das vorstellen wie die Betreuungsquote an der Uni.

Im betahaus haben wir 500 Leute. Das hört sich jetzt komisch an, aber ich glaube, es wäre für unsere Mitglieder besser, wenn wir weniger Nutzer hätten. Das Problem ist allerdings, dass dann die Preise steigen würden und viele unserer Mitglieder sich einen teureren Arbeitsplatz nicht leisten können.

Zunächst gab es Coworking-Spaces vor allem in den Metropolen. Heute finden wir sie nicht nur in kleineren Städten, sondern sogar „irgendwo im Nirgendwo“. Freiberufler arbeiten auf dem Kreuzfahrtschiff, am Strand einer einsamen Insel oder in den Gemäuern eines ehemaligen Klosters. War die Großstadt für das Coworking nur ein Zwischenstopp?  

Das glaube ich nicht. Ich würde eher sagen, dass die Leute immer regelmäßiger den Ort wechseln. Mehr und mehr Freiberufler verbringen eben zwei oder drei Monate – ich nehme jetzt mein eigenes Beispiel – auf Bali oder in Portugal, leben aber den Rest des Jahres trotzdem noch in Berlin. Ich sehe hier kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.

Diesem Trend liegt meiner Meinung nach ein verändertes Verständnis von Zuhause zugrunde. Die Menschen haben weiterhin das Gefühl, dort zu Hause zu sein, wo sie gerade leben. Aber sie bleiben deshalb nicht gleich für immer dort. Das war früher anders. Da war das eigene Zuhause etwas Dauerhaftes. Man hat die Menschen gefragt: „Ist das hier dein Zuhause?“ und die Antwort war „Ja“. Dann fragte man weiter: „Und wirst du auch noch in 50 Jahren hier wohnen?“ und die Antwort war wieder „Ja“. Heute lautet die Antwort auf diese zweite Frage eher: „Woher soll ich das wissen?“ oder sogar: „Hoffentlich nicht!“

Diese zunehmende Flexibilität wird durch die anhaltende und immer umfassendere Digitalisierung unseres Alltags ermöglicht. Im betahaus können Sie diese Entwicklung aus einer privilegierten Perspektive verfolgen, sozusagen aus der ersten Reihe. Wie bewerten Sie, was Sie sehen?

Also zunächst mal sitze ich nicht nur in der ersten Reihe, sondern befinde mich – gemeinsam mit vielen anderen – sicherlich auch in einer Art Blase, zumindest zeitweise. Das muss man sich auch hin und wieder bewusst machen.  

Grundsätzlich finde ich die neuen Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung einhergehen, schon unglaublich. Ich finde es super, dass ich heute kein Auto mehr brauche, weil ich einfach Carsharing-Angebote nutzen kann, dass ich durch Airbnb überall auf der Welt ganz unkompliziert eine Unterkunft finde, dass ich einfach nach Madrid fahren und von dort aus arbeiten kann, wenn ich möchte. Das bedeutet für mich einen Zugewinn an Freiheit. Ich bin weniger an Besitz gebunden und spare viel Zeit. Das wird größtenteils durch Technologie ermöglicht, die vor 20 Jahren schlichtweg nicht verfügbar war.

Und wenn wir uns in 20 Jahren noch einmal treffen sollten, dann werde ich wahrscheinlich das Gleiche über selbstfahrende Autos erzählen. Die stehen ja nun kurz vor der Marktreife. Und ganz ehrlich: Es ist ja auch keine große Überraschung mehr, dass die Autos irgendwann ganz alleine fahren. Ich frage mich nur immer: „Warum ist es noch nicht so weit?“

Andererseits bin ich aber gegenüber der Digitalisierung auch sehr skeptisch. Und zwar besonders im Hinblick auf die Monopole, die damit einhergehen. Ich meine natürlich die riesige Macht von Unternehmen wie Google, Facebook, Airbnb, Uber oder Amazon. Da meldet sich dann immer der Politologe in mir.

Und was sagt der Politologe?  

Na Ja, der beschwert sich, dass die digitale Infrastruktur nicht genau wie die analoge Infrastruktur ein Teil des Gemeinwesens, und damit für alle zugänglich, allen zuträglich und in ihrer Funktionsweise demokratisch legitimiert ist. Klar, auch Teile unserer analogen Infrastruktur – von Wasserwerken bis hin zu Krankenhäusern oder Schulen – werden zunehmend privatisiert. Auch das finde ich durchaus nicht gut. Aber zumindest gibt es dort noch die Idee des Gemeinwesens. Bei der digitalen Infrastruktur und den darauf aufbauenden Prozessen ist das ganz anders.

Ich versuche mal ein Beispiel zu geben: Straßen gehören zum Gemeinwesen und damit gleichzeitig allen und niemandem. Die Grundidee dabei ist, dass Straßen wichtig sind, damit das Gemeinwesen floriert. Deshalb kann sie jeder unter bestimmten Bedingungen benutzen und als Privatperson oder als Unternehmer aus dieser Nutzung einen Vorteil ziehen. Wenn ich dann die Straße entlangfahre und vor einer roten Ampel stehen bleibe, dann empfinde ich dieses Stehen-bleiben-Müssen als legitim, weil es irgendwann einmal von der Gemeinschaft so beschlossen wurde.

Die digitale Infrastruktur hingegen funktioniert ganz anders. Die gehört nicht allen, sondern nur einer Handvoll Leuten, und die Nutzungsbestimmungen werden von diesen wenigen festgelegt und sind auch noch auf deren Profit ausgerichtet. Der Rest muss dann damit leben oder sich Alternativen suchen oder so viel Druck aufbauen, dass die Anbieter sich gezwungen sehen, die Spielregeln anzupassen.

Und was ist mit den Staaten? Die könnten doch diese Unternehmen regulieren.

Es gibt zwar Regulierung, aber die ist erstens nicht besonders ambitioniert, zweitens hinken die Staaten ständig hinterher und drittens finden die Unternehmen immer wieder neue Schlupflöcher. Die einzigen Staaten, die hier wirklich durchgreifen – siehe China versus Facebook – sind keine Demokratien, und das ist ja auch nicht unbedingt besser. Das ganze Problem ist so komplex – ich habe wirklich keine Ahnung, wie sich das in Zukunft entwickelt.

Da sind Sie nicht allein. Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.

12/10/2017

12. Oktober 2017

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