gezeichneter Mann
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28. September 2017

Wetten, dass …?

Christian Hammel leitet bei der Technologiestiftung Berlin den Bereich Technologie und Stadt. Er beobachtet technologische und wirtschaftliche Trends aus aller Welt und prüft sie hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Standort Berlin. Es ist keine große Überraschung, dass sich bei seiner Arbeit derzeit vieles um die fortschreitende Digitalisierung des Lebens dreht. Viele Start-ups werden heute mit Risikokapital finanziert. Wir haben nachgefragt, was Risikokapital ist und was man rund um das Thema sonst noch wissen sollte.

Viktor Hildebrandt: Herr Hammel, was ist Venture-Capital?

Christian Hammel: Der Begriff „Venture-Capital” lässt sich als „Wagniskapital” oder „Risikokapital” ins Deutsche übersetzen und tatsächlich ist der Name Programm. Venture-Capital dient der Finanzierung von Unternehmen, insbesondere von vielversprechenden Start-ups. Doch Venture-Capital ist kein normaler Kredit. Die Gründerinnen und Gründer müssen weder finanzielle Sicherheiten vorweisen, noch müssen sie je auch nur einen Cent an die Geldgeber zurückzahlen. Stattdessen fordern die Gläubiger Geschäftsanteile, und zwar mit der Hoffnung, diese in einigen Jahren deutlich teurer weiterverkaufen zu können. Die Geldgeber planen also von Anfang an ihren Ausstieg, warten aber natürlich den aus ihrer Sicht besten Zeitpunkt ab.

Das heißt, wenn so ein Unternehmen scheitert, ist das Geld des Investors verloren?

Ganz genau. Deswegen sprechen wir von Risikokapital. Die Geldgeber in diesem Bereich müssen stets mit hohen Ausfallquoten rechnen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Investoren ihre erworbenen Anteile in sieben, acht oder sogar neun von zehn Fällen nur mit Verlusten oder gar nicht mehr weiterverkaufen können. Diese Ausfälle muss man sich leisten können.

Warum gehen die Investoren derartige Risiken ein?

Weil eine einzige glückliche Investition diese Verluste oft mehr als wettmachen kann. Risikokapital wird zumeist in Branchen investiert, in denen eine kleine Gruppe von Unternehmen einen ziemlich großen Kuchen unter sich aufteilt, während alle anderen Wettbewerber nichts als Krümel abbekommen. Im Extremfall wird sogar der gesamte Markt von einem einzigen Unternehmen dominiert. Das nennt man dann „The winner takes it all”. Wenn nun ein Investor den Eindruck hat, dass eine bestimmte Geschäftsidee besonders innovativ und noch dazu skalierbar ist, und wenn er oder sie außerdem von der Kompetenz der Gründerinnen und Gründer überzeugt ist, dann lohnt es sich natürlich, ordentlich Geld in die Hand zu nehmen. Denn nur mit ausreichenden finanziellen Mitteln kann das Wachstumspotenzial des Start-ups auch zügig realisiert werden. Ansonsten ist im Zweifelsfall jemand anders schneller. Oder das Start-up sucht sich andere Finanziers.

Umgekehrt heißt das für Gründerinnen und Gründer: Wenn ich Wagniskapital einsammeln möchte, dann brauche ich nicht nur ein gutes Produkt und persönliche Kompetenz, sondern ich muss die Geldgeber auch überzeugen, dass mein Unternehmen in kurzer Zeit stark wachsen und den Markt dominieren wird. Wer die Investoren für sich einnehmen will, muss bei ihnen die Hoffnung auf große Umsätze und hohe Renditen wecken. Für eine Pommesbude z. B. kann ich vielleicht einen Bankkredit bekommen, aber Venture-Captial wird mir sicher niemand überlassen. Es sei denn, es ist eine neue, nie dagewesene Art von Pommesbude und ich möchte davon Tausende auf der ganzen Welt aufmachen.

Für Unternehmerinnen und Unternehmer scheint dieses Modell ein absoluter Glücksfall zu sein: Sie bekommen Geld für ihre Ideen und wenn das Projekt scheitert, dann sind sie trotzdem schuldenfrei. Wo ist der Haken?

Die Gründerinnen und Gründer müssen wie gesagt Geschäftsanteile abgeben. Das bedeutet, dass ihnen die eigene Firma nicht mehr ganz gehört und dass sie im Zweifelsfall auch über die Geschicke der Firma nicht mehr eigenständig entscheiden können. Nun ist die Anzahl der abzugebenden Anteile und der tatsächliche Einfluss der Geldgeber auf das operative Geschäft und auf grundlegende strategische Entscheidungen natürlich von Fall zu Fall verschieden, aber im Prinzip liegt hier der Hund begraben.

Wonach richtet sich, wie viele Anteile die Gründerinnen und Gründer abgeben müssen?

Je früher man sich um Venture-Capital bemüht, desto riskanter ist das Investment für die Geldgeber. Deshalb gilt im Normalfall Folgendes: Sogenannte Early-Stage-Investoren geben für relativ viele Anteile relativ wenig Geld. Wer erst dann einsteigt, wenn die Idee ihr Wachstumspotenzial schon unter Beweis gestellt hat, muss für weniger Anteile verhältnismäßig viel Geld in die Hand nehmen, bekommt dann aber auch Anteile an etwas Größerem. Gründer versuchen natürlich, ihre Verhandlungsposition dadurch zu verbessern, dass sie sich mehrere potenzielle Investoren angeln und diese im Zweifelsfall gegeneinander ausspielen. In vielen Fällen sitzen jedoch offensichtlich die Geldgeber, ohne die es nicht vorangeht, am längeren Hebel.

An wen muss ich mich als Gründerin oder Gründer wenden, wenn ich auf der Suche nach Venture-Capital bin?

Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Geldgebern. Einzig die traditionellen Finanzinstitute spielen im Prinzip keine Rolle, denn sie dürfen natürlich mit den Ersparnissen ihrer Anleger derartige Risiken gar nicht eingehen. Davon abgesehen könnten Sie beispielsweise an Fondsmanager geraten, die Geld im Auftrag von reichen Leuten investieren. Genauso gibt es auch Unternehmer, die selbst schon ein Vermögen angehäuft haben und dieses nun durch gezielte Investitionen in aufstrebende Start-ups vermehren wollen.

Zudem gibt es immer mehr Firmen, die Venture-Capital für sich entdeckt haben. In diesem Fall spricht man von Corporate-Venture-Capital. Im Gegensatz zu Fondsmanagern und Unternehmern streben die Corporates nicht nur nach finanziellem Gewinn, sondern verfolgen auch strategische Ziele. Häufig wollen sie sich mithilfe von Beteiligungskapital den direkten Zugang zu technischen Innovationen sichern oder das eigene Geschäft diversifizieren. Anstatt Innovationen mühsam und mit großem Risiko im eigenen Unternehmen umzusetzen, investieren sie lieber in Start-ups und unterstützen diese oft zusätzlich durch Fachwissen und Managementexpertise, um ihre Erfolgsaussichten zu steigern.

Schließlich schlüpft sogar die öffentliche Hand vermehrt in die Rolle des Risikokapitalgebers. In Berlin z. B. wurde schon 1997 die IBB Beteiligungsgesellschaft (IBB Bet) gegründet. Auch in diesem Fall geht es nicht ausschließlich um Rendite, sondern insbesondere um die strategische Wirtschaftsförderung und die Profilierung Berlins als einen führenden Standort in bestimmten Branchen. Die öffentlichen Geldgeber folgen häufig den Investmententscheidungen der Privaten, zum Beispiel indem sie für jeden Euro, den eine Gründerin oder ein Gründer einwerben konnte, noch einmal einen zweiten Euro obendrauf packen.

„Ein Unternehmen, das jedes Jahr drei Packungen Kaffee mehr verkauft und auf diesem Wege kaum, aber dafür beständig wächst, wird nicht mit Risikokapital finanziert.“

Berlin ist in Deutschland der mit einigem Abstand wichtigste Standort in Sachen Venture-Capital. Woran liegt das?

Zunächst einmal wollen die Geldgeber dort präsent sein, wo ihre Klientel sitzt. Genauso wie jeder Supermarkt dort eine Filiale eröffnen möchte, wo die Kundschaft sich tummelt. Andersherum wollen die wachstumsorientierten Start-ups natürlich dort arbeiten, wo der Weg zu den Geldgebern kurz ist. Diese Bemühungen verstärken sich gegenseitig und stützen damit den Standort Berlin.

Nun kann man sich natürlich fragen, warum es in Berlin überhaupt so weit kam?

Dies liegt vor allem daran, dass man hier bis vor Kurzem selbst in ausgesprochen attraktiven Lagen mit sehr hoher Aufenthaltsqualität für die eigenen Arbeitnehmer für vergleichsweise wenig Geld reichlich Bürofläche anmieten konnte. Dadurch war die Stadt für Gründerinnen und Gründer überaus interessant. Außerdem suchen Start-ups natürlich (genau wie jedes andere Unternehmen auch) geeignetes Personal, und da gibt es in Berlin reichlich Auswahl, insbesondere was digitale Kompetenzen aller Art anbelangt.

Hinzu kommt, dass junge Gründerinnen und Gründer um den Standort deutlich weniger Tamtam machen als etablierte Unternehmen, wo manchmal ganze Heerscharen von Analysten Dutzende von Excel-Tabellen erstellen und auswerten, um eine Standortentscheidung vorzubereiten. Die jungen Leute hingegen gründen eben einfach dort, wo sie gerade sind, oder sie ziehen für die Gründung dorthin, wo sie ihr Bauchgefühl hinführt. In vielen Fällen ist das anscheinend Berlin.

Man sollte dabei aber immer im Hinterkopf behalten, dass weder die Start-ups noch die Investoren gleichmäßig über die Stadt verteilt sind. Im Gegenteil, es gibt in Berlin einige Hot-spots wirtschaftlicher Innovation. Dazu zählen einerseits der östliche Teil der Bezirke Kreuzberg und Mitte, wo der Großteil der Start-up-Szene sitzt, sowie andererseits die etablierten Wissenschaftsstandorte. Dort findet man viele universitäre Ausgründungen (sogenannte Spin-offs), die insbesondere für technologiegetriebene Unternehmen auf der Suche nach neuen Geschäftszweigen interessant sind. Von einem Start-up-Boom in Reinickendorf oder Steglitz habe ich hingegen noch nichts gehört.

Glauben Sie, die hohe Präsenz von Geldgebern und -abnehmern in Berlin führt dazu, dass selbst verhältnismäßig schlechte Ideen gefördert werden? Oder andersherum gefragt: Werden manche besonders gute Ideen nicht gefördert, weil die Gründerinnen und Gründer nicht in Berlin sitzen?

So etwas lässt sich nicht eindeutig belegen. Ich glaube jedoch nicht, dass gute Ideen und fähige Gründerinnen und Gründer am Standort scheitern. Der Standort hilft. In Berlin gibt es einfach viel mehr Gelegenheiten, die eigene Idee zu präsentieren und dafür Unterstützer zu gewinnen. Man kann aber auch in Kyritz an der Knatter leben und erfolgreich gründen. Das ist dann lediglich um einiges komplizierter und mit viel mehr Fahrerei verbunden.

Und davon einmal abgesehen: Der Stadt Berlin kann es doch ganz egal sein. Wenn es hier so viel Kapital gibt, dass damit auch schlechtere Ideen an den Markt gebracht werden können, dann ist das kein Grund zur Sorge, sondern eher ein Grund zur Freude.

Die Technologiestiftung Berlin hat sich in einer Studie ausführlich mit dem Thema Venture-Capital befasst. Start-ups (mit Venture-Capital finanziert oder nicht), heißt es darin, hätten eine „herausragende” Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins. Außerdem wird Venture-Capital als ein „nahezu ideales Finanzierungsmodell” für Start-ups beschrieben. Die Autoren stellen aber ebenfalls fest, dass im Jahr 2015 gerade einmal 0,5 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Berlin auf Unternehmen entfallen, die im Jahr 2015 Venture-Captial eingesammelt haben. Woher kommt also das besondere Interesse der Technologiestiftung an Venture-Capital?

Die Statistik lügt nicht. Die Anzahl der Arbeitsplätze, die von Unternehmen mit Venture-Captial-Finanzierung geschaffen werden, ist in der Tat verhältnismäßig gering. Im Vergleich zum Beispiel zu großen Dienstleistungsbranchen, dem öffentlichen Dienst oder einzelnen Berliner Großunternehmen ist das geradezu ein Klacks. Aber wenn man sich die Anzahl der Arbeitsplätze pro Unternehmen anschaut, dann sind die Zahlen bei den mit Venture-Capital finanzierten Unternehmen verglichen, mit dem produzierenden Gewerbe oder den Technologiedienstleistern, gar nicht so gering.

Guckt man zudem nicht nur auf die Anzahl der Arbeitsplätze, sondern auch auf die damit verbundene Wertschöpfung pro Mitarbeiter/-in beziehungsweise Arbeitsplatz, dann wandelt sich das Bild. Die Wertschöpfung ist in den wissensintensiven und technologiegetriebenen Bereichen der Wirtschaft – also genau da, wo Venture-Capital am häufigsten investiert wird – besonders hoch. Unser Interesse an Venture-Capital beruht außerdem darauf, dass wachstumsstarke Start-ups, die fast alle mit Venture-Captial finanziert werden, eine gewisse Anziehungskraft auf weitere wachstumsstarke Unternehmen ausüben, was natürlich aus wirtschaftlicher Sicht ebenfalls gut für die Region ist.

Allerdings gehen von diesen Start-ups, wie Sie eingangs betont haben, viele auch wieder pleite. Die Investoren rechnen mit einer hohen Ausfallquote und hoffen auf einige wenige besonders erfolgreiche Durchstarter. Mehrere Studien belegen dieses Prinzip. Sie zeigen, dass vom anfänglich rasanten Unternehmenswachstum, das durch Risikokapital ermöglicht, von den Gründern versprochen und von den Geldgebern verlangt wird, nach einigen Jahren häufig nur noch sehr wenig übrig ist. Fördert Venture-Capital denn nachhaltiges ökonomisches Wachstum? 

Ein Unternehmen, das jedes Jahr drei Packungen Kaffee mehr verkauft und auf diesem Wege kaum, aber dafür beständig wächst, wird nicht mit Risikokapital finanziert. Venture-Capital versucht besonders vielversprechenden jungen Unternehmen ein schnelles Wachstum zu ermöglichen, und genau wie der Rest der Wirtschaft ist auch das Geschäft mit Risikokapital von Gewinninteressen bestimmt. Inwiefern das nun nachhaltig ist oder nicht, hängt von der Perspektive ab, die man einnimmt.

Aus Sicht der wenigen großen Gewinner ist das Wachstum durchaus nachhaltig, denn sie erarbeiten sich durch rasante Zuwachsraten unmittelbar nach der Unternehmensgründung eine sehr starke Marktposition. Niemand kann sie, um es einmal bildlich auszudrücken, so ohne Weiteres vom Thron stoßen. Aus Sicht der vielen Verlierer hingegen ist das anfängliche Wachstum natürlich nicht nachhaltig, denn offensichtlich hat es ja nicht geklappt. Schnelles Wachstum ist ein Spiel mit dem Feuer und viele Unternehmer verbrennen sich dabei die Finger. Das hält aber zahlreiche Gründerinnen und Gründer nicht davon ab, es trotzdem noch ein zweites, drittes und viertes Mal mit neuen Ideen zu versuchen. Wer sich auf Wagniskapital einlässt, weiß, dass rasantes Wachstum erwartet und irgendwann auch eingefordert wird – koste es was es wolle.

gezeichnetes Sparschwein

Davon abgesehen gibt es auch im Venture-Captial Bereich natürlich nicht nur zwei Extreme. Es gibt die großen Gewinner und es gibt Start-ups, deren Geschäftsidee sich nicht durchsetzt, oder die am zu schnellen Wachstum scheitern. Doch darüber hinaus gibt es auch eine ganze Reihe von Unternehmen, die zunächst Risikokapital einsammeln und sich dann weder zum Marktführer entwickeln noch Insolvenz anmelden müssen. Sie finden eine Nische und nisten sich dort langfristig ein. Wenn der Kuchen groß genug ist, um die Metapher von vorhin noch einmal aufzugreifen, dann kann man auch von den Krümeln ganz gut leben. Wieder andere Unternehmen entwickeln sich verheißungsvoll, werden aber irgendwann von einem Wettbewerber geschluckt, der sich noch besser entwickelt oder einfach mehr Kapital einsammeln konnte. In diesem Fall geht das Geschäft nicht verloren, zumindest nicht in Gänze, sondern es geht in einem anderen Unternehmen auf.

Aus Sicht der Region wiederum ist das Wachstum, das durch Risikokapital entsteht, nachhaltig, sofern es hier Früchte trägt. Wenn Büros hier gemietet werden, wenn Steuern und Löhne hier bezahlt werden, wenn Arbeitsplätze hier entstehen, wenn Gewinne hier ausgeschüttet und ausgegeben oder reinvestiert werden. Statistisch gesehen ist es jedenfalls egal, wenn viele mit Wagniskapital finanzierte Unternehmen wieder vom Markt verschwinden, solange nur genügend neue Start-ups nachrücken. Wobei es den Arbeitnehmern aber nicht gleichgültig sein dürfte, wenn sie jedes Jahr bei einer neuen Firma anheuern müssen.

Bleiben wir noch ein wenig bei der Perspektive der Region: Die mit Risikokapital finanzierten Durchstarter verdrängen oft bestehende Unternehmen. Ein großer Onlinelieferservice verdrängt viele kleine Lieferdienste. Ein großer Online-Schuhhandel verdrängt viele kleine Schuhläden und so weiter. Wie sollte die Region damit umgehen?

Diese Verdrängung findet natürlich statt. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sie zumeist in besonders gesättigten Märkten auftritt und, dass sie nicht etwa ein bedauerlicher Nebeneffekt ist, sondern im Grunde genommen die Existenzberechtigung der Start-ups. Selbstverständlich treten diese als Wettbewerber an, mit dem Ziel, möglichst viele Konkurrenten zu verdrängen. Das sind die Spielregeln des Kapitalismus und nicht etwa eine besondere Spielart von Unternehmen, deren Wachstum durch Venture-Capital finanziert wurde. Als guter Geschäftsmann wird jeder Dönerladenbesitzer versuchen, alle anderen Dönerläden im Umkreis zu verdrängen. Insofern sollten die Kritiker von Verdrängungsprozessen nicht beim Risikokapital ansetzen.

Die Verdrängung von „echten“ Läden in der Stadt durch Onlineportale ist eine neue Form von Verdrängung. Die kann man schlimm finden oder nicht. In jedem Fall sollte man hier nicht eine Korrelation mit einer Kausalität verwechseln. Nur weil insbesondere Start-ups mit Venture- Capital-Finanzierung die Läden verdrängen, heißt das nicht, dass diese Form der Verdrängung durch Venture-Capital hervorgerufen wird bzw., umgekehrt, durch ein Verbot von Venture-Capital – sofern es sich überhaupt verbieten lässt – gestoppt werden könnte.

Davon abgesehen: Wenn man weiß, dass es diese Verdrängung sowieso gibt und weiterhin geben wird, dann freut man sich doch, wenn sie zumindest von einem Unternehmen vorangetrieben wird, das dann ebenfalls hier in der Region ansässig ist.

„Die Verdrängung von „echten” Läden in der Stadt durch Onlineportale ist eine neue Form von Verdrängung. Die kann man schlimm finden oder nicht.“

Gleichzeitig haben Start-ups mit Venture-Capital-Finanzierung einen schlechten Ruf, denn, so heißt es, viele zahlen kaum Steuern, betreiben ganz massiv Lobbying, stemmen sich mit all ihrer Macht gegen politische Regulierung und bezahlen ihre Mitarbeiter nicht ordentlich, sofern sie überhaupt Leute anstellen. Sehen Sie auch hier keinen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang?

Zunächst einmal müsste man diese Punkte natürlich alle einzeln und im Hinblick auf bestimmte Unternehmen besprechen. Eine Pauschalisierung halte ich für gefährlich. Zudem teile ich diese Wahrnehmung nicht uneingeschränkt: Massiven Lobbyismus nehme ich eher bei internationalen Großunternehmen wahr, als bei Start-ups. Und dass Unternehmen, die Verluste machen oder alte Verluste vor sich herschieben, keine oder kaum Steuern zahlen, scheint mir auch nicht sehr Start-up-spezifisch zu sein. Manchen Geschäftspraktiken einiger Start-ups stehe ich ebenfalls eher kritisch gegenüber. Ich habe aber Zweifel, ob ausgerechnet deren Unternehmensfinanzierung eine Erklärung dafür liefert.

 

Es gab übrigens in jeder Phase des Kapitalismus vergleichbare Entwicklungen, unabhängig davon, wie sich die Unternehmen finanziert haben. Lesen Sie Friedrich Engels oder gehen Sie ins Theater und schauen sich eine Vorstellung von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ an. In der klassischen Industrie galt Müll noch vor einigen  Jahrzehnten als „entsorgt“, wenn man ihn nur über den Werkszaun geschmissen hatte, und in manchen Ländern ist das immer noch so. Deshalb bin ich skeptisch gegenüber Kritik, die als unmoralisch wahrgenommenes unternehmerisches Handeln ausgerechnet auf die Finanzierung mit Risikokapital zurückführen will.

Und was die Arbeitsbedingungen angeht, möchte ich einmal Folgendes hinzufügen: Wenn ich in den Gehaltsreport der Berliner Start-up-Szene gucke,  fällt mir zwar die Kinnlade runter – Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass die Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen ausgerechnet in solchen Unternehmen am allergrößten sind?! – aber gleichzeitig höre ich wenig davon, dass die Beschäftigten selbst auf Veränderung drängen. Solange den Mitarbeitern bunte Sitzbälle, schicke Jobtitel, Zugehörigkeitsgefühl und Spaßkultur wichtiger sind als ein paar Hunderter mehr im Monat.

Und die Exzesse, denen man nun mit Mindestlöhnen und Spielregeln zur Scheinselbständigkeit beizukommen versucht, entstanden übrigens gerade nicht in der wissensintensiven und mit Risikokapital finanzierten Start-up-Branche, sondern kamen aus ganz anderen Sektoren der Wirtschaft.

Herzlichen Dank für dieses spannende Gespräch.

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