Weltweit ziehen immer mehr Menschen in Ballungsräume. Die Herausforderungen für Städte sind vor dem Hintergrund von Klimawandel, demographischem Wandel und Digitalisierung immens. Daher müssen mehr denn je neue Konzepte entwickelt und (städte-)bauliche Innovationen in die Praxis überführt werden.
Wie kann sie konkret aussehen, die Stadt von morgen? Wie wollen wir künftig in urbanen Räumen leben, uns versorgen und fortbewegen? Welche Qualitäten sind uns als Individuen wie auch als Gemeinschaft wichtig? Und auf welche Funktionalitäten können und wollen wir nicht verzichten?
Berlin macht es sich zur Aufgabe, in den nächsten Jahren valide Antworten auf all diese Fragen zu liefern. Mit dem Projekt Berlin TXL entsteht ab 2021 ein Reallabor für ein CO2-neutrales Stadtviertel und neue Formen des Bauens. Die technologischen Grundlagen hierfür werden direkt vor Ort erforscht, erprobt, produziert und kooperativ in markttaugliche Lösungen überführt. Angefangen beim effizienten Einsatz von Energie über nachhaltiges Bauen, umweltschonende Mobilität, Recycling und die vernetzte Steuerung von Systemen bis hin zu sauberem Wasser und dem Einsatz neuer Materialien – in einem fünf Quadratkilometer großen Mikrokosmos wird das System Stadt mit all seinen Facetten neu gedacht und zukunftsfähig ausgestaltet.
Eines der ambitioniertesten Stadtentwicklungsprojekte Europas
Ein halbes Jahr nach der Eröffnung des internationalen Flughafens Berlin-Brandenburg wird der innerstädtische Airport Berlin-Tegel endgültig geschlossen, und der Aufbruch zu Neuem kann beginnen. 2021 rollen dann die Bagger an und die Planungen von Berlin TXL werden Realität – mit der Urban Tech Republic, einem Forschungs- und Industriepark für urbane Technologien, und einem neuen, nachhaltigen und sozialen Wohngebiet, dem Schumacher Quartier.
Während die Urban Tech Republic Platz für bis zu 1.000 Unternehmen mit 20.000 Beschäftigten bietet, entstehen im Schumacher Quartier über 5.000 Wohnungen für mehr als 10.000 Menschen. Das Konzept sieht zudem einen über 200 Hektar großen Landschaftsraum vor, der an die Naherholungslandschaft im Berliner Westen anschließt. Mit dieser Nachnutzung des Flughafens Tegel kommt eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas in die Umsetzung.
Der Startpunkt für die Planungen liegt bereits zwölf Jahre zurück: Schon 2008 begann die öffentliche Diskussion über die Zukunft des Flughafenareals, verbunden mit dem politischen Mandat an die 2012 vom Land Berlin gegründete Tegel Projekt GmbH, einen Standort für urbane Zukunftstechnologien zu entwickeln.
Sechs international besetzte Teams mit Expertinnen und Experten aus Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung erarbeiteten Vorschläge, die mit weiteren Fachleuten, der Verwaltung und verschiedenen Interessensgruppen weiterentwickelt wurden. Von Beginn an hatten Interessierte die Möglichkeit, sich auf öffentlichen Standortkonferenzen in die Themen einzubringen – ein Umstand, der sich bezahlt machte: Die grundsätzlichen Planungen wurden zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Jede Interessensgruppe, die sich im partizipativen Prozess engagiert hatte, findet sich letztlich auch darin wieder.
Was dabei herauskam, beschreibt die Vision einer besseren, weil sauberen und sozialen Stadt, einer Stadt für die Menschen – hochmodern und innovativ, dabei naturnah und respektvoll im Umgang mit Ressourcen. Es entstanden Ansätze und Methoden, wie beispielsweise ein autofreies städtisches Quartier mit multimodaler Mobilität, die konsequente Umsetzung des sogenannten Schwammstadt-Prinzips* oder auch die Anwendung des Animal-Aided Design** zur Steigerung der Biodiversität im gebauten Quartier.
*Das Schwammstadtprinzip ist eine Möglichkeit, den Auswirkungen von Starkregenereignissen entgegenzuwirken, indem der komplette Niederschlag nicht oberflächlich abfließt, sondern aufgefangen, gespeichert und wiederverwertet wird.
** Animal-Aided Design ist ein Planungsansatz, der die Bedürfnisse stadtbewohnender Tiere in die Stadt-, Landschafts- und Freiraumplanung einbezieht. Das Konzept zielt darauf ab, wildlebende Vögel, Reptilien oder Säugetiere dauerhaft in städtischen Freiräumen anzusiedeln und für Menschen die Lebensqualität durch neue Formen der Naturerfahrung in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld zu verbessern.
Einzug von Natur in die Stadt
Mit der Begrünung von Fassaden, Dächern und Freiflächen soll in Berlin TXL eine urban-ökologische Nachverdichtung erfolgen. Neben der visuellen Aufwertung führt dieser Ansatz zur Reduktion von Luftverschmutzung, Lärm und lokalen Hitzeeffekten, bietet Tieren Rückzugsräume und steigert die Lebensqualität für die Bewohnerinnen und Bewohner. Der Einzug von Natur in die Stadt reduziert den Energieverbrauch und leistet einen positiven Beitrag zum ökologischen Gesamtsystem.
Durch die Anwendung des Schwammstadt-Prinzips wappnet sich das Quartier gegen Starkregen, Trockenheit und Hitze. Während die Wassermengen heftiger Regengüsse in Städten vielfach nicht versickern können, zu Überschwemmungen führen oder in die Kanalisation abfließen, gelangen sie im Schumacher Quartier über ein komplexes Kaskadensystem nach und nach über blaugrüne Dächer bis in bepflanzte Zonen, Überflutungsflächen und unterirdische Pufferspeicher. Das gesamte Regenwasser wird im Quartier genutzt oder gespeichert; nichts geht verloren. Wenn es an heißen Tagen verdunstet, kühlt es die Umgebung. Wenn es hingegen versickert, reichert es das Grundwasser an. Durch dieses in sich geschlossene System gelingt lokale Klimaregulierung, die zusätzlich unterstützt wird von den vielen großblättrigen Laubbäumen, die hier gepflanzt werden und die wie natürliche Klimaanlagen wirken.
Sowohl im öffentlichen Raum als auch auf den Gebäuden ist eine Vielzahl an Retentions- und Versickerungsflächen geplant. Zusammen mit Verdunstungswiesen im Quartier und einer Pflanzenauswahl mit hoher Bestäuberfreundlichkeit für Insekten verbessern diese langfristig das Mikroklima, stärken die Biodiversität und bieten den Bewohnerinnen und Bewohnern ein neues, besonderes Angebot an Naturerfahrung.
Bauen für Mensch und Tier: Animal-Aided Design
Das sogenannte Animal-Aided Design – entwickelt von dem Ökologen Prof. Dr. Wolfgang Weisser von der TU München und dem Landschaftsarchitekten Dr. Thomas E. Hauck von der Universität Kassel – komplementiert die Planung: Der neue Stadtteil wird auf diese Weise auch ein Quartier für Tiere und wichtige Experimentierfläche für die noch junge Planungsmethode.
Freiflächen und Gebäude werden im Schumacher Quartier so gestaltet, dass sie die Bedürfnisse von 14 ausgesuchten, seltenen Tierarten erfüllen, darunter Eichhörnchen, Breitflügel-Fledermäusen, Turmfalken oder Nachtigall-Grashüpfern. Für sie werden im Wohnviertel und dem angrenzenden Landschaftspark artgerechte Lebensbedingungen geschaffen – mit dem Ziel, sie systematisch dauerhaft anzusiedeln und mit ihnen auch weitere Spezies nachzuziehen, so dass letztlich das fertige Wohnquartier eine höhere Biodiversität aufweist als die heutige Freifläche.
Saubere Mobilität
Umweltfreundlichkeit und Ressourcenschonung bilden auch den Kern des Mobilitätsbegriffs von Berlin TXL. Während im Innovationspark Urban Tech Republic neue Mobilitätskonzepte erforscht werden, ist das Schumacher Quartier das direkte Testfeld. Dieses ist weitgehend autofrei geplant: Lediglich Taxis, Liefer- und Krankenwagen können in das Wohnviertel fahren. Außer für Menschen mit Behinderungen wird es in den Straßen keine Parkplätze geben. Fahrzeuge können in den Quartiersgaragen an den Rändern des Viertels parken. Die wichtigsten Umsteigepunkte zwischen den verschiedenen Verkehrsmitteln in Berlin TXL heißen Mobility Hubs. Sie machen den Wechsel vom motorisierten Individualverkehr auf Fahrräder und öffentliche Verkehrsmittel attraktiv und verknüpfen innovative Technologien wie etwa autonome Systeme mit Komponenten wie Bikesharing, Carsharing und E-Mobilität. Sechs Meter breite Fahrradwege queren das gesamte Areal und werden an die bestehenden Radwege der Nachbarquartiere angebunden.
Marktplatz für Wärme und Kälte
Die energetische Versorgung des Areals erfolgt über ein neuartiges Niedrigtemperaturnetz. Dieses sogenannte LowEx-Netz wird mit Temperaturen bis zu 40 Grad Celsius betrieben. Durch die im Vergleich zu einem klassischen Fernwärmenetz niedrigere Betriebstemperatur können Wärmeverluste reduziert werden. Darüber hinaus erzeugen bei den Verbrauchern installierte Wärmepumpen bei Bedarf höhere Temperaturen sowie auch Kühlenergie. Das LowEx-Netz kann überschüssige oder selbsterzeugte Energie (z.B. Produktionsabwärme aus den Gewerbe- und Industriebetrieben des Standortes oder Energie aus erneuerbaren Quellen) aufnehmen und macht Kundinnen und Kunden so zugleich zu Produzenten.
Weil alles direkt vor Ort dezentral und nachhaltig aus einem Mix von Blockheizkraftwerken, Solaranlagen, Geothermie und Abwasserwärme erzeugt, gespeichert und verbraucht wird, fungiert das Netz als Energie-Tauschplatz.
Digitalisierung und intelligente Vernetzung
Um all diese hochgesteckten Ziele zu erreichen, ist der Einsatz digitaler Technologien notwendig. Denn mithilfe der Digitalisierung lassen sich Effizienz- und Nachhaltigkeitspotenziale besser erschließen: sei es ressourcenschonendes Wassermanagement, eine intelligente Auslastung von Stromnetzen oder die Energieeinsparung durch vernetzte Sensorik. Auch die Etablierung neuer Produktionsketten und der gesamte Baubereich werden durch technologische Neuerungen und Digitalisierung geprägt. In Berlin TXL wird hierfür eine nachhaltige, digitale Infrastruktur – quasi ein digitaler Maschinenraum – etabliert.
Intelligente Vernetzung in Verbindung mit Innovationen im Bausektor ermöglicht es, Umweltfreundlichkeit und Lebensqualität in Einklang zu bringen und (städte-)bauliche Experimente in die Praxis zu überführen. Dadurch, dass diese Themen zusammen gedacht und umgesetzt werden, entsteht eine zweifache Chance: Antworten auf die großen globalen Herausforderungen zu entwickeln und zugleich neue Geschäftsfelder zu etablieren.
Holzbau – in industriellem Maßstab
Ein weiterer Baustein auf dem Weg zur klimaneutralen (oder gar klimapositiven) Stadt ist die Verwendung nachhaltiger, regenerativer Baustoffe. Insbesondere Holz ermöglicht eine langfristige CO2-Speicherung, und der Einsatz von Holz als Baustoff reduziert den Verbrauch umweltbelastender Materialien wie zum Beispiel Beton. In Verbindung mit dem holzreichen Umland Brandenburgs besteht für Berlin TXL die Chance, grundlegende Herausforderungen der Bauindustrie wie Klimaschutz und Ressourcenverbrauch mit globalen Trends wie Digitalisierung und aktuellen stadtentwicklungspolitischen Themen innovativ zusammenzuführen. Ziel dabei ist, eine neue Wertschöpfungskette zu etablieren, die Player der lokalen Waldwirtschaft, Produktion, Logistik, Montage, des Wohnungsbaus und der urbanen Infrastruktur einbezieht. Zusammen mit der Bauhütte 4.0 – einem Forum für die Untersuchung neuer Strategien der Anwendung von Holz in der Baubranche Berlins – kann ein Innovationscluster und Produktionszentrum für in Holz gefertigte Gebäude entstehen, in dem Bauteile für das angrenzende Schumacher Quartier – und darüber hinaus – entwickelt und gefertigt werden.
Ein Mikrokosmos, der Schule machen soll
Klimawandel, demographischer Wandel, Digitalisierung, Urbanisierung: Die Veränderungen der Rahmenbedingungen sind vielseitig und bringen existenzielle Herausforderungen mit sich. Wenn wir die Zukunft lebenswert gestalten wollen, müssen wir damit in den Städten beginnen. Und wenn wir Neues bauen, dann nicht gegen, sondern mit der Natur. Berlin TXL ist darauf ausgerichtet, ein Schaufenster zu sein, eine Experimentierwerkstatt für die mensch- und naturbejahende Stadt der Zukunft und für das Zusammenwirken verschiedenster Konzepte in einer konkreten Umsetzung. Eine kleine Smart City in der Metropole, mit der Mission, nach außen abzustrahlen. Denn perspektivisch kann der Weg nur in eine nachhaltige und vernetzte Zukunft gehen. Die Verantwortung ist deshalb groß, hier aufzuzeigen, was möglich ist – und etwas Nachahmenswertes entstehen zu lassen.
Erschienen in der IMMOZEIT, Ausgabe „Aufbruch“.