13. Januar 2022

„Quartiere, Städte und Metropolregionen sind hochkomplexe Ökosysteme“

Wie wird der ehemalige Flughafen in der Zukunft aussehen? Regelmäßig sprechen wir mit Partnerinnen und Partnern über die Bedeutung der Nachnutzungspläne und den Weg Berlins zur Smart City. Mirko de Paoli, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Smart City e.V. sieht Berlin mit seiner Smart-City-Strategie im nationalen Vergleich in einer Vorreiterrolle. Der Bundesverband Smart City e.V. ist für den Standort Berlin TXL der kritisch-konstruktiver Sparring Partner was Themen zur Digitalisierung betrifft.

Welche Erwartungen haben Sie persönlich an die Urban Tech Republic und das Schumacher Quartier und welche Bedeutung haben die beiden Projekte für Berlin?

Neue Quartiere bieten in besonderem Maße Chancen, progressive Ansätze zur urbanen Mobilität umzusetzen und zu erproben. Wichtig ist dabei, ganzheitlich zu denken und nicht nur „angesagte“ Mobilitätsformen zu fördern. Alle Formen der Nahmobilität müssen dabei in das Gesamtsystem integriert werden. Das Rückgrat muss ein sehr gut ausgebauter öffentlicher Verkehr sein, den sich jeder Mensch leisten kann. Einen Baustein sollte auch das autonome Fahren bilden, im öffentlichen Verkehr und für den Bedarfsverkehr. Neue Quartiere sollten technologisch darauf vorbereitet sein. Darüber hinaus müssen wir uns endlich von der autozentrierten Planung verabschieden. Was bringt ein noch so schöner grüner verkehrsberuhigter Stadtteil, wenn in dessen Peripherie sog. „Mobility Hubs“ entstehen, bei denen es sich im Wesentlichen um Quartiersgaragen mit ein paar Zusatzfunktionen handelt, die für die Gesamtverkehrslage im restlichen Stadtgebiet keine Entlastung bieten. Ich habe ein anderes Verständnis des Mobility Hubs: dieser muss zuvorderst ein sinnstiftender Ort sein, an dem Menschen sich gerne aufhalten, an dem soziale Interaktion geschieht und der zum Verweilen einlädt. Es ist wohl offensichtlich, dass motorisierter Individualverkehr in solch einem Konzept nur eine untergeordnete Rolle spielen kann.

Auch bzgl. der Energieversorgung und des Energieverbrauchs müssen wir endlich anfangen ganzheitlich zu denken und zu handeln. Wir können bekanntermaßen jeden Euro nur einmal ausgeben, also gilt es, für jede Investition den größtmöglichen Hebel hinsichtlich Energieeffizienz und CO2-Reduktion zu finden. Allerdings sind Quartiere, Städte und Metropolregionen hochkomplexe Ökosysteme, deren unzählige Teilprozesse, Verflechtungen und Dependenzen oft kontraintuitiv wirken und sich in Ihrer Gesamtheit dem menschlichen Verständnis entziehen.

Um zielgerichtete Investitionsentscheidungen treffen zu können, müssen wir aber diese Ökosysteme zunächst einmal verstehen. Das können Menschen ohne technische Unterstützung nicht leisten und da uns die entsprechende Technologie bislang nicht zur Verfügung stand, wurden Investitionsentscheidungen mehr oder weniger nach „Bauchgefühl“ getroffen.

Heute haben wir aber die Möglichkeit, Quartiere und ganze Städte mit allen darin enthaltenen Energiesystemen mit all deren Wechselwirkungen in Form sog. Digitaler Zwillinge abzubilden und Investitionsentscheidungen und deren Auswirkungen auf Kosten und CO2-Einsparungen im Vorwege zu simulieren. Wir sollten diese neuen Möglichkeiten nutzen und neue Quartiere sind geradezu prädestiniert dafür.

Wenn Berlin mutig genug ist bei der Umsetzung einer menschen-zentrierten, wirklich nachhaltigen Digitalisierung, können die Urban Tech Republic und das Schumacher Quartier zu Fanalen der digitalen Transformation mit globaler Strahlkraft werden.

Wie weit ist Berlin aus Ihrer Sicht auf dem Weg zur Smart City und wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?

Mit dem transparenten und für alle offenen Beteiligungsprozess zur Entwicklung der neuen Smart-City-Strategie ist Berlin im nationalen Vergleich in einer Vorreiterrolle. Eine derart breit gefächerte und langfristige Einbeziehung aller Bevölkerungs- und Stakeholdergruppen ist in Deutschland einmalig.

Ich freue mich sehr, dass der Bundesverband Smart City e.V. (nachfolgend BVSC genannt) frühzeitig in diesen Prozess involviert wurde und diesen weiterhin – insbesondere in seinen Funktionen als Facilitator und Korrektiv – begleiten kann.

Der größte Handlungsbedarf – aber auch die größte Chance – liegt für Berlin meiner Meinung nach darin, in dem steten Bewusstsein zu handeln, dass Digitalisierung am wenigsten eine technische Herausforderung ist. Digitalisierung ist politisch, denn sie wird offen oder verdeckt unser Wertesystem in Frage stellen und muss deshalb in einen demokratischen Aushandlungsprozess eingebettet werden. So etwas ist aber kein Projekt, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Und mit den neuen Technologien ist nun erstmals in der Menschheitsgeschichte die dauerhafte diskriminierungsfreie Partizipation aller handlungsfähigen Bürger:innen möglich.

Diese Erkenntnis muss Einzug finden in die Entwicklung kommunaler Transformations-Strategien, aber auch in die Implementierung von technischen Lösungen. Jeder Mensch muss gleichberechtigt teilhaben können und diskriminierungsfreien Zugang zu allen Systemen haben, die der Daseinsvorsorge dienen.

„Der größte Handlungsbedarf – aber auch die größte Chance – liegt für Berlin darin, in dem steten Bewusstsein zu handeln, dass Digitalisierung am wenigsten eine technische Herausforderung ist.“

Wenn Sie an die Zukunft denken, was wäre persönlich Ihr größter Wunsch für Berlin im Jahr 2030?

Ich bin überzeugt, dass Technik dem Menschen dienen muss, nicht umgekehrt. Mensch und Umwelt sollten demnach bei der Digitalisierung immer im Vordergrund stehen. Ich bin in 2020 als Vorstandsvorsitzender des BVSC angetreten, um eine Kursänderung der Gesellschaft von einer eher technik-zentrierten und effizienz-getriebenen Digitalisierung hin zu jener zuvor genannten nachhaltigen Digitalisierung „nach menschlichem Maß“ zu bewirken.

Die zentrale Frage unser Dekade ist für mich, wie die Fragmentierung durch Partikularinteressen und die Polarisierung in Filterblasen überwunden werden können und somit die Widerstandsfähigkeit, die “Resilienz” der Gesellschaft gestärkt werden kann. Angstfreie Begegnungsräume, welche vielfältige soziale Interaktionen ermöglichen und in denen die Menschen sich sicher und wohl fühlen, stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt und sind das stabilste Fundament einer freien Gesellschaft, insbesondere in Krisenzeiten.

Hierfür bedarf es aber eines grundlegenden Mentalitätswandels. Mittlerweile werden allerdings Ansätze als „Mindshift“ bzw. „neues Mindset“ propagiert, welche wieder genau in jenem Silo-Denken und Kompetenz-Gerangel münden, welche Ursache der meisten Probleme sind, die uns heute im Rahmen der Digitalisierung begegnen und nicht Lösung.

Ich wünsche mir, dass die Bewohner:innen und insbesondere die Politiker:innen Berlins sich trauen, die Axiome des 20. Jahrhunderts zu hinterfragen und Tautologien hinter sich zu lassen, in der Gewissheit, dass es niemanden gibt, der ihnen sagen kann, welches der richtige Weg ist. Und weil das so ist, müssen alle gemeinsam den richtigen Weg finden in einem Transformations-Prozess, in dem jeder Mensch ein:e Expert:in ist und Gehör finden muss. Der BVSC steht Ihnen, liebe Berliner:innen, dafür als Partner gerne zur Verfügung.

Mirko de Paoli ist seit 2016 Mitglied des Bundesverband Smart City e.V. und seit Februar 2020 als dessen Vorstandsvorsitzender bestrebt, den technischen Fortschritt im Sinne einer menschengerechten, nachhaltigen und somit zukunftsfähigen Entwicklung mitzugestalten. Als IT-Dienstleister hat er Infrastruktur-Projekte für mittelständische Unternehmen begleitet, Enterprise-Webseiten, Software für die Luftfahrtindustrie sowie Softwareprodukte für Krankenhäuser und Kommunikationsunternehmen entwickelt und IoT-Projekte geleitet. Darüber hinaus engagiert er sich privat und als Unternehmer ehrenamtlich für diverse gemeinnützige NGOs.

13/01/2022

13. Januar 2022

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