Andreas Krüger ist ein zentraler Akteur in der Berliner Urbanistikszene. Er ist Geschäftsführer der Belius GmbH, einer strategischen Beratungsagentur für Raumentwicklung, war außerdem lange Zeit geschäftsführender Gesellschafter bei Modulor, engagiert sich federführend in der Initiative StadtNeudenken und spielt noch einige andere Rollen. Wir haben uns über verschiedene Methoden der behutsamen und wertegetriebenen Quartiersentwicklung unterhalten und diese ausführlich am Beispiel des Moritzplatzes erläutert, der in den letzten Jahren unter maßgeblicher Beteiligung von Andreas Krüger einen beachtlichen Wandel durchlaufen hat.
Viktor Hildebrandt: Herr Krüger, was zeichnet eine gute Raumstrategie aus?
Andreas Krüger: Raumstrategien sind sehr umfassende Konzepte für die langfristige, durch Inhalte getriebene Nutzung und Gestaltung städtischer Räume. Gute Raumstrategien zeichnen sich dadurch aus, dass sie unser Zusammenleben in der Stadt bereichern, also einen sozialen Mehrwert erzeugen. Hierfür ist es besonders wichtig, die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Orten in den Vordergrund zu rücken, anstatt isoliert über einzelne Adressen nachzudenken.
Bei einer Raumstrategie im städtischen Kontext geht es immer um Räume mit verschiedenen Bestandteilen, also zum Beispiel um einen Platz und sein Umfeld, um einen Kiez oder ein Stadtviertel. Solche Räume sind natürlich sehr komplex. Unterschiedliche Nutzergruppen und Nutzungsarten passen manchmal gut zusammen, oft aber auch nicht – zumindest nicht ohne Weiteres. Es gibt also einen besonderen Bedarf nach Abstimmung, Vermittlung und geschickter Anordnung.
Hinzu kommen die Mobilitäts-, Energie- und Kreislaufsysteme. Sie bilden die Grundlagen gut funktionierender und lebenswerter städtischer Räume. Wie kommen die Menschen von A nach B? Woher kommt ihr Strom? Wie wird der Müll entsorgt? Wie funktionieren die Sanitäranlagen? Diese Fragen sind sehr komplex und derzeit – angetrieben durch die Energiewende, die Digitalisierung und andere gesellschaftliche Wandlungsprozesse – ändern sich unsere Antworten.
Lassen Sie uns den Prozess der Entwicklung und Umsetzung von Raumstrategien an einem Beispiel aus Ihrer Praxis näher untersuchen.
Gern. Wir waren zum Beispiel an den Entwicklungen rund um den Berliner Moritzplatz beteiligt. Vor zehn Jahren war dieser Platz am Rande Kreuzbergs – um es einmal leicht überspitzt zu formulieren – ein toter Raum. Es gab dort zahlreiche Industriebauten, die größtenteils oder sogar gänzlich leer standen. Hier eine alte Klavier-, dort eine alte Seifenfabrik. Hier eine geschlossene Druckerei, dort ein ehemaliges Verlagsgebäude. Weitere Flächen lagen seit mehreren Jahrzehnten brach. Es fehlten Ideen und vor allem eine übergreifende Vision für diese Gegend. Heute sieht die Sache anders aus. Der Moritzplatz zählt zu den bekanntesten Standorten der Berliner Kreativwirtschaft.
Wie kam es also zu diesem Wandel?
Diese Entwicklung war sehr vielschichtig. Ein wichtiger Ausgangspunkt war sicherlich die Entscheidung von Modulor, einem Handelsunternehmen für Architektur- und Künstlerbedarf, in die ehemalige Bechstein- Klavierfabrik einzuziehen. Ich selbst war damals geschäftsführender Gesellschafter von Modulor und daher an der Suche nach einem neuen Standort für das Unternehmen beteiligt. Modulors Umzug in die Bechstein Fabrik hatte eine beachtliche Signalwirkung. Plötzlich gab es andere Mitstreiter aus der Kreativwirtschaft, die sich uns anschließen wollten und ebenfalls mit dem Moritzplatz liebäugelten. Damit war sozusagen der Grundstein gelegt.
Das klingt zunächst eher nach glücklicher Fügung als nach ausgefeilter Strategie.
Natürlich spielt der Zufall bei solchen Entwicklungen immer eine Rolle. Es war beispielsweise auch Zufall, dass das Land Berlin ausgerechnet in den Nullerjahren anfing, die Akteure der Kreativwirtschaft wirklich ernst zu nehmen und auch zu unterstützen. Zehn Jahre zuvor war die Situation noch eine völlig andere. Aber aus diesen anfänglichen Zufällen heraus erwuchs dann Stück für Stück eine Strategie für den Raum rund um den Moritzplatz.
Wir Neuankömmlinge haben aus Eigeninitiative und in Eigenregie damit begonnen, zahlreiche Anwohner, Vereine und Unternehmen aus der Nachbarschaft sowie potenzielle künftige Nutzer anzusprechen und zu befragen. Wir wollten herausfinden, warum der Moritzplatz so verwahrlost wirkte, warum dort kaum jemand ausstieg und sich aufhielt, was die Leute sich wünschten und wie künftige Nutzer zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen könnten. In der Fachsprache nennt man das Stakeholder-Monitoring.
Warum hat Modulor diesen Prozess denn überhaupt angestoßen? Das hat doch mit Ihrem Kerngeschäft erstmal gar nichts zu tun.
Zumindest nicht direkt. Natürlich hatten und haben wir auch selbst Interesse an einem lebhaften und gut funktionierenden Standort, denn unser Geschäft profitiert davon. Doch unser aller Engagement – nicht nur das von Modulor – ging weit über den unmittelbaren Eigennutzen hinaus. Unser gemeinsames Ziel bestand darin, einen räumlichen Wandel in Gang zu bringen, der sozialen Mehrwert schaffen würde. Uns war klar, dass wir dafür die Menschen vor Ort und viele weitere Stakeholder in die Entwicklungen einbeziehen und uns untereinander vernetzen müssen.
Welche Rolle spielten die öffentlichen Institutionen?
Wir haben von Anfang an sehr eng mit dem Land Berlin und dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zusammengearbeitet. Doch wir hatten kein Mandat zur Entwicklung des Quartiers. Im Prinzip haben wir uns selbst dazu ermächtigt. Unsere Arbeit wurde dann von den öffentlichen Institutionen dankbar aufgenommen, denn wir haben gute Ratschläge gegeben und angefangen, echte Probleme zu lösen und neue Nutzergruppen anzuziehen. Plötzlich waren wir also „Mit-Macher“ des Raumes.
Insgesamt haben wir ganz stark davon profitiert, dass alle beteiligten Akteure wirklich wollten. Über das Land Berlin wird ja oft gesagt, dass Stadtentwicklungsprojekte ewig dauern, politische Entscheidungen von Eitelkeiten geprägt sind, öffentliche Ämter gern auf sich warten lassen und viele Dinge einfach nicht so funktionieren wie sie sollten. Diese Klischees sind sicherlich nicht einfach vom Himmel gefallen. Doch die Entwicklungen rund um den Moritzplatz zeigen ganz deutlich, dass es in Berlin auch anders laufen kann!
Grundlage der guten Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten war gegenseitiger Respekt und eine kooperative Grundeinstellung: Die Unternehmen haben nicht bloß die Hand aufgehalten. Die Ämter haben die Unternehmen nicht als Gegenspieler, sondern als Partner gesehen. Und vor allem wurden die Wünsche und Ideen der Bürgerinnen und Bürger ernst genommen. Gemeinsam haben wir das Ziel formuliert, den Moritzplatz wieder ins kollektive Bewusstsein Berlins zurückzuholen und ihn zu beleben.
Die Entwicklung ist sicherlich beeindruckend. Aber inwiefern schafft sie denn den von Ihnen angesprochenen sozialen Mehrwert?
Wir haben uns vor allem um Nutzer aus der Kreativwirtschaft bemüht. Die Versammlung dieser Akteure an einem Ort stärkt ihre Position insgesamt und führt zu Synergieeffekten. Außerdem darf man nicht vergessen, dass viele dieser Nutzer zuvor Schwierigkeiten hatten, überhaupt Räume zu finden. Doch es gibt heute am Moritzplatz nicht nur Ausstellungs- und Veranstaltungsräume, Clubs, Co-Working Spaces, Theater-, Tanz- und Musikstudios, Materialhandel, Cafés und verschiedene Agenturen, sondern eben auch eine Initiative zur Qualifizierung von jungen Erwachsenen, einen Kindergarten auf dem Dach eines alten Industriegebäudes und eine stadtbekannte Urban Gardening-Initiative. Ich meine natürlich die Prinzessinnengärten, die eine ganze Menge ungenutzten, privaten Raum in stark frequentierten, öffentlichen Raum verwandelt haben. Außerdem hat sich auch die Verkehrsinfrastruktur verbessert. Einige Veränderungen, wie Markierungen von Fahrradwegen, sind für alle gut zu erkennen. Andere Maßnahmen, wie eine verbesserte Ampelschaltung, sind unsichtbar aber dennoch wirkungsvoll.
Die konstruktive Zusammenarbeit zwischen einer großen Zahl unterschiedlicher Akteure ist kein Selbstläufer. Worauf kommt es Ihrer Meinung nach besonders an?
Es gibt natürlich ganz viele verschiedene Methoden, Verfahren und Tools, auf die man zurückgreifen kann, um gut zusammenzuarbeiten. Ein Königsweg ist allerdings nicht dabei. Grundsätzlich muss man zunächst einmal all diejenigen identifizieren, die Ansprüche auf Mitgestaltung anmelden. Man darf dabei nicht vergessen, dass unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Lebensweisen sich auch auf unterschiedlichen Wegen Gehör verschaffen und ihren Wunsch nach Teilhabe zum Ausdruck bringen. Manche melden sich bei den Behörden, andere schreiben Leserbriefe. Manche sprühen ihre Statements aber auch an Hauswände und wieder andere zünden vielleicht sogar Autos an, weil sie das Gefühl haben, sonst nicht wahrgenommen zu werden.
Wenn man die verschiedenen Stakeholder identifiziert hat, gilt es, sie am Verhandlungstisch zu versammeln. Wenn Ideen, Projekte oder Räume durch Konflikte aufgeladen sind, ist das meist keine leichte Aufgabe. Man muss die Teilnehmer dann irgendwie dazu bewegen, miteinander in den Dialog zu treten und ihre teils entgegengesetzten Wünsche, Argumente und Ideen zu besprechen. Solche Gespräche werden anfangs häufig emotional geführt. Es hilft, die einzelnen Punkte zu versachlichen und vor allem zu verschriftlichen. Was auf dem Papier steht, das schwebt nicht länger vage durch den Raum und in den Köpfen herum, sondern wird konkret. Es nimmt Gestalt an und kann deshalb auch leichter diskutiert werden. Der Prozess der Verschriftlichung zwingt alle Beteiligten, sich intensiv mit den eigenen und den fremden Forderungen und Ideen auseinanderzusetzen.
Anschließend müssen die einzelnen Positionen, Perspektiven und Argumente weiter diskutiert werden, und zwar mit dem Ziel, tragfähige und sinnvolle Kompromisse zu finden und Entscheidungen herbeizuführen. Passiert das nicht, bleibt man handlungsunfähig, und das bedeutet Stillstand. Der gesamte Prozess profitiert ganz enorm von Moderatorinnen und Moderatoren, von Mediatorinnen und Mediatoren. Das sind Menschen, die selbst keine unmittelbaren persönlichen Interessen vertreten und wegen ihrer Unabhängigkeit eine Sonderstellung einnehmen. Je mehr Respekt und Ansehen diese Menschen bei den Beteiligten genießen, und je erfahrener sie im Umgang mit konfliktgeladenen Interessen und Argumenten sind, desto besser. Insgesamt würde ich sagen, dass wir die Rolle des Vermittlers in Berlin noch weiter ausbilden und unterstützen sollten.
Lassen Sie uns noch über einen anderen Punkt sprechen: Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht moderne Technologien in Beteiligungs- und Planungsverfahren?
Technologie wird heutzutage immer mitgedacht und trägt auf ganz verschiedenen Wegen zur Entwicklung von Raumstrategien bei. Durch Leerstandsmelder kann man sich zum Beispiel per Mausklick einen Überblick über ungenutzte Räume verschaffen. Es gibt auch andere interaktive Karten, die einem wahlweise die Standorte von Bibliotheken, Clubs oder Briefkästen anzeigen. Auch Zensusdaten, die zum Beispiel Aufschluss über Wohn- und Einkommensverhältnisse geben, werden häufig gemappt. Geht es um Raum, bieten Karten viele tolle Möglichkeiten, bestimmte Situationen oder Kausalitäten anschaulich darzustellen. Und je mehr frei verfügbare Datensätze es für eine Stadt gibt, desto mehr wird damit auch herumexperimentiert. Außerdem arbeiten wir bei der Entwicklung von Raumstrategien auch mit Anwendungen, die verschiedene Entwicklungs- und Nutzungsszenarien grafisch darstellen. Es ist heute sogar möglich, große Bauvorhaben, also z. B. die Entwicklung eines neuen Quartiers, als virtuelles, dreidimensionales Modell „begehbar” und „erlebbar” zu machen, bevor auch nur ein Spatenstich getan wurde. Außerdem werden Onlineforen und -portale zunehmend für die Ideenfindung, Diskussion und Entscheidungsvorbereitung eingesetzt, denn es gibt viele Leute, die nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein können und dennoch ihre Meinung kundtun und Vorschläge unterbreiten wollen.
Kurzum: Technische Anwendungen sind sehr hilfreich für die Entwicklung von Raumstrategien. Sie können nicht nur zu guten Entscheidungen und einer konstruktiven Diskussion beitragen, sondern einen Prozess auch öffnen. Wer technische Möglichkeiten geschickt einsetzt, kann viele Bürgerinnen und Bürger in einen Entwicklungsprozess einbinden, der sonst aller Wahrscheinlichkeit nach an ihnen vorbeigegangen wäre. Da die Anwendungen immer intuitiver werden, gilt dies zunehmend auch für Menschen, die keine Digital Natives sind und Technik nicht unbedingt im Alltag benutzen. Ich sage das aus eigener Erfahrung: Meine Mutter ist 77 Jahre alt. Sie hat erst vor einem Jahr angefangen, ein Smartphone zu benutzen, und ist heute schlichtweg begeistert von ihren neuen Möglichkeiten.
Je mehr Menschen sich beteiligen, desto schwieriger wird es, alle Interessen und Positionen unter einen Hut zu bringen. Verderben zu viele Köche nicht auch manchmal den Brei?
Es stimmt, dass mit der Anzahl der beteiligten Gruppen und Akteure auch die Komplexität der Entscheidungsfindung wächst. Und man kann es natürlich nie allen recht machen. Doch ich würde deshalb nicht gleich schlussfolgern, dass zu viele Köche hier den Brei verderben. Eher im Gegenteil: Ich finde es sehr gut, dass man sich heute in Berlin zu verschiedenen Prozessen der Stadtentwicklung äußern kann und auch tatsächlich gehört wird. Das war lange Zeit nicht selbstverständlich.
Viele Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt wollen über ihr direktes Umfeld mitbestimmen und sind auch durchaus bereit, Energie und Zeit dafür zu investieren. Diese Menschen verfügen über sogenanntes Ortslaienwissen, also über Informationen über die Beschaffenheit und Funktionsweise eines bestimmten Ortes. Hier gilt das Motto „Niemand weiß so viel über den Quadratmeter um dich herum wie du selbst“. Dieses Wissen ist auch für die Entwicklung des jeweiligen Ortes bedeutsam und häufig auch für größere Zusammenhänge.
Außerdem gibt es unter ihnen auch zahlreiche Fachleute, die ebenfalls einiges an Expertise beisteuern können. Sie sind vor allem als kritische Stimmen für die Stadtentwicklung von großer Bedeutung. Ich bin der Meinung, dass wir in Berlin durch diese „neuen“ städtischen Akteure Fehler vermeiden können, die viele andere europäische Großstädte in den letzten Jahren begangen haben.
Welche Fehler meinen Sie?
Ich meine vor allem eine Überkommerzialisierung, wie wir sie derzeit in Paris und London, Zürich und Stockholm oder auch Frankfurt und München beobachten können. Vor allem in Paris und London kann eigentlich kein Mensch mehr normal leben. Wer vier Jobs gleichzeitig nachgehen und ständig Überstunden machen muss, um halbwegs über die Runden zu kommen, hat eben weder die nötige Kraft noch die Zeit, um sich in Angelegenheiten des Gemeinwesens einzubringen. In Berlin sehen wir ähnliche Tendenzen, doch die Entwicklung ist hier zum Glück noch lange nicht so weit fortgeschritten wie andernorts. Ich hoffe, dass wir durch eine clevere Liegenschaftspolitik und den verstärkten Einbezug der Bürgerinnen und Bürger und der organisierten Zivilgesellschaft den Ausverkauf Berlins verhindern werden.
Vielen Dank für dieses interessante Gespräch.